Mittwoch, 21. November 2012

"Kapital" von John Lanchester

 
„Kapital“ kommt einem von seiner Struktur her vor wie einer der großen englischen Gesellschaftsromane. „Vanity Fair“ und andere sind von daher sicher als Vorbild für diesen „Wälzer“ zu sehen, der nichts anderes will als den Makrokosmos London anhand des Mikrokosmos „Pepys Road“ darstellen. Der Name ist natürlich symbolisch und eine Referenz an den großen Chronisten und Politiker Samuel Pepys, dessen Tagebuchaufzeichnungen unser Bild vom England des 17. Jahrhunderts entscheidend geprägt haben. Vielleicht versteht sich John Lancaster in seiner Tradition als Chronist der Londoner „Nuller-Jahre“, die mit der Finanzkrise eines ihrer großen Themen hatten, das sich bis in die Gegenwart zieht. Eine Straße namens „Pepys Road“ gibt es übrigens wirklich im Südwesten Londons.
Die Haupthandlung von „Kapital“ (im englischen „Capital“, was Hauptstadt bedeutet, gegenüber dem deutschen Titel also eine Bedeutungsverschiebung markiert) spielt zur Zeit der beginnenden Wirtschaftskrise, beginnend Dezember 2007-endend November 2008.
Wir lernen mehrere Menschen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft kennen, die erst einmal nur eint, dass sie in der Südlondoner Straße „Pepys Road“ leben, arbeiten oder sonst mit ihr in Verbindung gebracht werden können.
Ihre Geschichten werden abwechselnd weitergesponnen und manche laufen über Kreuz. Da ist die zweiundachtzigjährige Frau Petunia Howe, die in der Pepys Road geboren wurde und vermutlich auch dort stirbt. Sie steht für die alten Werte, die Traditon, wenn man so will auch für das „alte Geld“, das nach und nach seine Kraft verliert und keine Relevanz mehr für die Zukunft hat. Ihre Familie lernen wir kennen, vor allem ihre Tochter Mary, die auf dem Land lebt und ihren Enkel Graham, der sein Geld als Künstler verdient.  Dann gibt es die neureiche Familie Yount, bei der Roger Yount für den modernen kapitalistischen Aktienmenschen steht, der viel zu viel arbeitet, viel zu viel verdient und dennoch  ein viel zu falsches Leben führt. Seine Frau Arabella ist sich trotz Hausfrauentums zu schade ihre zwei kleinen Söhne selbst aufzuziehen und gibt stattdessen das von Roger verdiente Geld mit vollen Händen für Botox, Fitesstrainer und Klamotten aus. Auch seine geschäftliche Umwelt wird präsentiert und mit ihr Neid- und Missgunst, die im Bankenwesen an der Tagesordnung sind (u.a. verkörpert von Mark, der sich für besser als Roger hält (es wahrscheinlich auch ist) und deshalb seinen Job will.)
 Es gibt den jungen Fußballprofi aus Afrika, Freddy Kamo, der mit seinem Vater Patrick erst vor kurzem in die Straße gezogen ist. Außerdem gibt es den polnische Hilfsarbeiter Zbigniew, das ungarische Kindermädchen Matya und die afrikanische Politesse Quentina (die illegal in England ist), die pakistanische Verkäuferfamilie Kamal (drei Brüder, einer verheiratet mit zwei Kindern, die anderen beiden noch auf der Suche nach ihrem Platz im Leben), die sich in England etwas aufgebaut haben und doch immer wieder auf ihre Herkunft reduziert werden.
Zusammengenommen stehen alle  für das weltoffene (manchmal mehr, manchmal weniger) England der Zuwanderung und des Multikulturalismus. Sie alle hoffen auf ein besseres Leben in dieser Milch-und-Honig-Stadt London. Ihr Problem ist die Diskrepanz zwischen Hoffnung auf eine Veränderung und Verzweiflung über die Entwurzelung und Heimatlosigkeit in der Fremde.
Dann gibt es da plötzlich eine namenlose Bedrohung, die alle betrifft und die sich sowohl real als auch im Medium Internet eine Plattform und damit Gehör verschafft: „Wir wollen was ihr habt“ – künstlerische Installation oder gieriges Symptom der Neidgesellschaft?

Geld spielt eine große Rolle im Roman, Gentrifizierung und Globalisierung sind die anderen großen Themen. Wo Menschen sind da ist auch Liebe, Tod und Hoffnung. Diese Eckpfeiler und Menschheitsthemen sind die Folie für  „Kapital“ oder „Capital“, das von den neuen Themen so vereinnahmt wird dass die großen Fragen oft zu einer Nebensächlichkeit verkommen, aber sich natürlich nicht zurückdrücken lassen: trotz Finanzkrise und Immobilienmarkt: Liebe und Tod sind weiterhin das, was die Welt im Innersten zusammenhält – auch in der Pepys Road.

Das Buch hat einen erzählerischen Reichtum der in dieser Form seinesgleichen sucht. Er lebt vor allem von den Charakterschilderungen, die in ihrer Summe ein perfektes Panorama Londons und seiner Bewohner abgibt, die natürlich fiktiv sind, aber irgendwie für Typen stehen, die das Bild der englischen Hauptstadt genau so prägen.

Der Gesellschaftsroman – er ist wieder da! Aktuell, stark , erbarmungslos und unterhaltsam. So soll es sein!

Vielen herzlichen Dank an vorablesen und den KlettCotta-Verlag für das Rezensionsexemplar!

Meine Ausgabe:
Originaltitel: Capital
Verlag: Klett-Cotta
Erscheinungsjahr der Ausgabe: 2012
Erstausgabe: 2012
Seiten: 682
ISBN:  3608939857

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